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Ziele und Potentiale von ganztägiger Bildung aus Sicht der Kinder- und Jugendhilfe

Von: Bettina Arnoldt

 

Fünf Thesen aus Sicht der Kinder- und Jugendhilfe.

Ziele und Potentiale von ganztägiger Bildung aus Sicht der Kinder- und Jugendhilfe

Die Kinder- und Jugendhilfe ist seit dem Aus- und Aufbau der Ganztagsschulen in Deutschland einer der wichtigsten Kooperationspartner bei der Realisierung der Ganztagsangebote in den Schulen. Die geplante Verankerung des Rechtsanspruchs auf ganztägige Betreuung für Kinder im Grundschulalter im SGB VIII verstärkt ihre große Bedeutung und rückt die Frage in den Vordergrund, welche Ziele sie mit der ganztägigen Bildung von Grundschulkindern verbinden und welche Aspekte aus ihrer Perspektive für einen guten Ganztag relevant sind.

Einleitend ist zunächst in Erinnerung zu rufen, dass die Kinder- und Jugendhilfe im Vergleich zur Schule ein vielfältiges und heterogenes Feld ist. Die Kinder- und Jugendhilfe besteht aus öffentlichen und freien Trägern mit unterschiedlichen Wertorientierungen und einer Vielfalt von Inhalten, Methoden und Arbeitsformen. Freie Träger sind zum Beispiel Jugendringe, AWO, Caritas oder die Sportjugend. Sie bearbeiten verschiedene Handlungsfelder, die von der Kinder- und Jugendarbeit über Jugendverbandsarbeit, über Sozialarbeit bis zu Hilfen zur Erziehung reichen. Trotz der Verschiedenheit der Akteure weisen die Stellungnahmen und Positionspapiere eine hohe Übereinstimmung darin auf, wie sie zu Ganztagsschule bzw. ganztägiger Bildung und Betreuung stehen. Dies ist durch die im SGB VIII festgelegten Handlungsansätzen, wie z.B. Freiwilligkeit, Partizipation und Abbau von Benachteiligungen zu erklären.

Seit dem Ausbau der Ganztagsschulen haben sich eine Reihe von Forschungsprojekten mit der Frage der Kooperation zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Schule bzw. deren Personal beschäftigt. Aus den Ergebnissen dieser Studien und der Sichtung der Stellungnahmen und Positionspapiere (eine Übersicht hierzu im Anhang) lassen sich fünf Thesen ableiten, unter welchen Bedingungen aus Sicht der Kinder- und Jugendhilfe ein guter Ganztag gegeben ist.

 

These 1: Guter Ganztag ist gegeben, wenn Bildung, Betreuung und Erziehung in einem sinnvollen Gesamtkonzept zusammenwirken

In einem guten Ganztag sollen formale, non-formale und informelle Bildungsprozesse gleichermaßen gefördert und ein ganzheitliches Verständnis von Bildung und Förderung angestrebt werden. Für die pädagogische Arbeit leitet sich hieraus ab, dass auf das gesamte Spektrum an Kompetenzen und Fähigkeiten eingegangen wird, also gleichermaßen auf emotionale, kreative, kognitive, praktische und soziale Kompetenzen. Ziel ist es, dass die Orte, an denen Ganztag stattfindet, als Lern- und Lebensorte verstanden werden, bei dem die Bedürfnisse von Kindern im Grundschulalter im Mittelpunkt stehen.

Hierfür muss der Ganztag vielfältige, attraktive Angebote bereitstellen, die neue und andere Bildungserfahrungen ermöglichen und auch anregende außerschulische Lernorte einbeziehen.

 

These 2: Guter Ganztag ist gegeben, wenn er gemeinsam von Jugendhilfe und Schule verantwortet wird

Aus der ersten These, dass Bildung, Betreuung und Erziehung gleichwertige Bestandteile in einem Gesamtkonzept sein sollen, leitet sich ab, dass Schule und Jugendhilfe gleichberechtigte Partner sein müssen, die gemeinsam das Ganztagskonzept erarbeiten und tragen. Würde die Kinder- und Jugendhilfe diesbezüglich eine nachgeordnete Stellung einnehmen, hätte die schulische Seite auch über die nicht-unterrichtlichen Aspekte – also den Kompetenzbereich der Kinder- und Jugendhilfe – das stärkere Gewicht im Ganztag. Bei der gemeinsamen Verantwortung geht es nicht darum, dass die Unterschiede zwischen Schule und Jugendhilfe aufgeweicht werden, sondern dass jede Seite ihre Expertise und speziellen Fertigkeiten einbringen kann und diese von der jeweils anderen Seite anerkannt werden. In dieser Konstellation ist eine Verständigung über Ziele und Inhalte der Zusammenarbeit herzustellen, dessen Ergebnis Bestandteil des gemeinsam abgestimmten Konzeptes sein soll.

Die gemeinsame Verantwortung ist nicht nur auf die Leitungs- bzw. Steuerungsebene bezogen, auf der das Gesamtkonzept erarbeitet wird. Sie muss sich durch alle Arbeitsebenen ziehen und von allen Beteiligten getragen werden, so auch auf der Ebene der Gremien und der Ebene der pädagogischen Arbeit. Die Kinder- und Jugendhilfe und deren Mitarbeiter*innen müssen aktiv und gleichberechtigt in Gremien beteiligt sein, wozu im Übrigen auch das Stimmrecht gehört. Auf der Ebene der pädagogischen Arbeit ist ihre Arbeit als gleichwertig anzuerkennen. Verschiedene Studien kommen zu dem Ergebnis, dass man von diesem Ziel noch weit entfernt ist (vgl. Arnoldt 2011, Seckinger u.a. 2012).

 

These 3: Guter Ganztag ist gegeben, wenn aktive Mitbestimmung und Mitgestaltung von Kindern und Eltern selbstverständlicher Bestandteil sind

Ausgehend von den Prinzipien der Kinder- und Jugendhilfe ist es selbstverständlich, dass sowohl Schülerinnen und Schüler als auch Eltern aktive Mitwirkungsmöglichkeiten haben. Durch den ganztägigen Aufenthalt in Institutionen ist es in noch höherem Maße notwendig, Eltern und Kinder an der Ausgestaltung des Ganztags zu beteiligen. Wenn ein guter Ganztag – wie in These 1 herausgestellt – Lern- UND Lebensort sein soll, müssen Kinder in die Planung, Durchführung und Mitgestaltung der Bildungsprogramme einbezogen werden. Die Mitgestaltung sollte nicht beim außerunterrichtlichen Teil des Ganztags stehen bleiben: Guter Ganztag bedeutet auch, dass partizipatives Lernen ermöglicht werden sollte. Partizipatives Lernen heißt, dass Kinder gefördert werden, sich auch in Bezug auf Gegenstände des Unterrichts an Fragen zu beteiligen, was, wie und in welcher Reichweite gelernt werden soll. Die Kinder- und Jugendhilfe hat Expertise darin, Partizipationsprozesse altersgerecht zu gestalten.

 

These 4: Guter Ganztag ist gegeben, wenn er zeitliche Freiräume beinhaltet, die Kinder selbstbestimmt und eigenverantwortlich füllen können

In der Kinder- und Jugendhilfe besteht das Prinzip der Freiwilligkeit. Ein guter Ganztag enthält demnach Zeitfenster, die Kinder selbstverantwortet gestalten können, wobei den Kindern selbst überlassen ist, wie sie diese Zeit nutzen. Ob sie in dieser Zeit selbstorganisiert lernen, spielen oder nichts tun, bleibt ihre Entscheidung. Ziel ist es daher, dass der Ganztag nicht von morgens bis nachmittags durchstrukturiert ist und ausschließlich durch Erwachsene angeleitet wird. Kinder, die den ganzen Tag in Institutionen verbringen, brauchen Rückzugs- und Freiräume, die nicht durch Erwachsene vorbestimmt sind und für Kinder die Möglichkeit beinhalten, Autonomieerfahrungen zu machen.

Im Kontext Schule kann das Prinzip der Freiwilligkeit nur schwer umgesetzt werden. Die Bereitstellung von zeitlichen Freiräumen und Wahlmöglichkeiten kann jedoch Spielräume schaffen, die genutzt werden sollten.

 

These 5:  Guter Ganztag ist gegeben, wenn gute Rahmenbedingungen vorhanden sind

Nicht zuletzt können die pädagogischen Ziele nur schwer umgesetzt werden, wenn nicht entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen werden. Hierbei geht es einerseits um die Festlegung von Standards, andererseits um die Bereitstellung ausreichender Ressourcen.

Nach wie vor fehlen für den Ganztag Standards für einen Fachkraft-Kind-Schlüssel, für Räume und die Ausstattung. So wird ein angemessener Betreuungsschlüssel gefordert, der individuelle Förderung ermöglicht. Findet der Ganztag im Gebäude der Schule statt, ist festzustellen, dass viele Ganztagsschulen unzureichend mit Räumen für den nicht-unterrichtlichen Bereich ausgestattet sind, wie die Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen zeigt.

Ein weiteres wichtiges Thema in diesem Zusammenhang ist das Personal, das im Ganztag eingesetzt wird. In der Jugendhilfe gilt das Fachkräftegebot, wonach das Personal für die anfallenden Arbeiten entsprechend qualifiziert sein muss. Ziel ist es, dass das Fachkräftegebot auch für den Ganztag gilt, wenn er in Kooperation mit der Schule umgesetzt wird. Zudem müssen die Beschäftigungsverhältnisse so angelegt sein, dass sie eine angemessene Bezahlung und gesicherte Perspektiven enthalten. Bei der Kalkulation einer angemessenen Bezahlung sind die zeitlichen Bedingungen der pädagogischen Arbeit ausreichend zu berücksichtigen. Bei schulischen Ganztagsangeboten werden die pädagogischen Fachkräfte oftmals nur für die reine Angebotszeit bezahlt. In einem guten Ganztag müssen jedoch Zeiten für die Vor- und Nachbereitung der Angebote und für die Abstimmung mit Lehr- und anderen Fachkräften vorgesehen sein und honoriert werden. Aufgrund von Fachkräftemangel und knappen finanziellen Ressourcen ist die Realität momentan von diesem Ziel weit entfernt (Böttcher u.a. 2011, Pluto u.a. 2014).

Zu den guten Rahmenbedingungen gehört aus Sicht der Kinder- und Jugendhilfe auch, wenn das Personal regelmäßig fortgebildet wird. Ziel eines guten Ganztags sollte es in diesem Zusammenhang sein, dass Lehr- und pädagogische Fachkräfte gemeinsam fortgebildet werden. Dies erhöht die gegenseitige Akzeptanz und fördert die Zusammenarbeit zwischen den Professionen. Womit wiederum die Umsetzung eines Ganztags in gemeinsamer Verantwortung (These 2) gestärkt wird.

 

In der Arbeitsgruppe Jugendhilfe wurden im Anschluss an den Vortrag drei Hauptziele herausgearbeitet, die sich aus den Thesen ableiten:

  1. „Gebäude“ Ganztag: Jeder bringt seine Expertise ein. Ziel ist es nicht, ein gemeinsames Bildungsverständnis zwischen Schule und Jugendhilfe zu entwickeln, sondern das jede Seite das Bildungsverständnis des jeweils anderen kennt und anerkennt.
  2. Es wird ein pädagogisches Konzept für die Phase des Grundschulalters benötigt. Hierzu bedarf es weiterer Forschung und Diskursräume
  3. Eigene Identität von Kinder- und Jugendhilfe (in Bezug auf den Ganztag). Jugendhilfe ist nicht als Ergänzung zur Schule zu betrachten

 

Anschließend wurde diskutiert, wie die Ziele erreicht werden können. Großer Konsens bestand darin, dass ein kommunales Ganztagsmanagement benötigt wird. Dieses sollte eine übergeordnete neutrale Instanz sein, die weder Jugendhilfe noch Schule ist, und den Ganztag zum Wohle des Kindes steuert.

Ganztag sollte stärker als Netzwerk im Sozialraum betrachtet werden, zu dem alle möglichen Akteure beitragen (z.B. Tanzclub, Fußballverein usw.).

In der Arbeitsgruppe wurde auch darauf hingewiesen, dass der Rechtsanspruch in ganz unterschiedlichen Modellen umgesetzt werden wird. Die Kinder- und Jugendhilfe kann beispielsweise die Trägerschaft des Ganztags an einer offenen Ganztagsschule übernehmen und steht in diesem Modell in einem engen Austauschverhältnis mit der Schule oder sie bietet Hortplätze an und steht hierbei nur wenig in Kontakt mit der Schule. Daher sind manche der in den Thesen genannten Aspekte nicht in allen Modellen gleichermaßen relevant.

Bettina Arnoldt arbeitet als Diplom-Pädagogin im Deutschen Jugendinstitut (DJI), u. a. im Projekt Qualität für den Ganztag. Der Beitrag ist der verschriftlichte Vortrag, den Frau Arnoldt auf dem zweiten Workshop „Ziele und Potenziale eines ganztägigen Bildungs- und Betreuungsangebots für Grundschulkinder aus unterschiedlichen Perspektiven“ am 19. März 2019 in Berlin im Rahmen der Expert*innenrunde „Rechtsanspruch guter Ganztag“ gehalten hat. Initiator der Veranstaltungsreihe ist ein Arbeitsbündnis von Arbeiterwohlfahrt Bundesverband, Bertelsmann Stiftung, Robert Bosch Stiftung und Stiftung Mercator. Die im Artikel dargestellten Ergebnisse aus der Diskussion in der nachfolgenden Arbeitsgruppe verdeutlichen das engagierte Ringen um gute und tragfähige Lösungen auf dem Weg zu einem guten Ganztag.

 

Literatur

Arnoldt, B. (2011). Kooperation zwischen Ganztagsschule und außerschulischen Partnern. Entwicklung der Rahmenbedingungen. In: N. Fischer, H. G. Holtappels, E. Klieme, T. Rauschenbach, L. Stecher & I. Züchner (Hrsg.), Ganztagsschule: Entwicklung, Qualität, Wirkungen. Längsschnittliche Befunde der Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG) (S. 312-329). Weinheim: Beltz Juventa.

Böttcher, W., Maykus, S., Altermann, A., & Liesegang, T. (2011). Multiprofessionelle Kooperation an Ganztagsschulen. In: K. Speck, T. Olk, O. Böhm-Kasper, H.-J. Stolz & C. Wiezorek (Hrsg.), Ganztagsschulische Kooperation und Professionsentwicklung. Studien zu multiprofessionellen Teams und sozialräumlicher Vernetzung (S. 102-113). Weinheim: Beltz Juventa.

Pluto, L., Peucker, C., van Santen, E., & Seckinger, M. (2014). Auswirkungen der Nachmittagsbetreuung auf Angebote offener Kinder- und Jugendarbeit. Empirische Befunde. Offene Jugendarbeit, 3, (S.12-18).

Seckinger, M., Pluto, L., Peucker, C., & Gadow, T. (2012). Jugendringe – Kristallisationskerne der örtlichen Jugendarbeit. Deutsches Jugendinstitut.

Anhang

Auswahl an Studien, die Ganztag und Kooperation zum Thema haben

„Bildungsbenachteiligung“ als Topos pädagogischer Akteure in Ganztagsschulen
(DFG-Projekt, Laufzeit 2013-2015)

Bildungsberichterstattung Ganztagsschule NRW (BiGa NRW) (Laufzeit 2010-2019)

Das Ganztagsangebot von Grundschule und Hort zwischen Bildungsprogrammatik und akteursgebundenen Entwürfen (TU Dresden, Laufzeit 2012-2014)

Ganztagsschule als Lebensort aus Sicht von Kindern und Jugendlichen. Möglichkeiten zur Entwicklung von Beteiligungsprojekten an mehreren Schulstandorten (Hochschule Düsseldorf, Laufzeit 2015)

Jugendhilfe und sozialer  Wandel – Leistungen und Strukturen (DJI, laufend)

Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG) ( Laufzeit 2004-2019)

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